Zehn Jahre danach: Erster Tag der Flut

In diesem August jährt sich zum zehnten mal die ‚Flut‘, wie man sie in Dresden (und vermutlich auch anderswo in Sachsen) schlicht nennt. Wer heute durch die betroffenen Gebiete fährt, muss schon sehr gründlich nach Spuren des Hochwassers suchen; wie dramatisch die Tage damals waren, lässt sich bestenfalls erahnen. Weil die Erinnerung irgendwann genau so verblasst wie die angerichteten Schäden, habe ich vor einigen Jahren meine Eindrücke aufgeschrieben. Ihr findet sie hier als virtuelles Tagebuch. Diese Erinnerungen sind natürlich lückenhaft und nur ein winziger, subjektiver Ausschnitt der damaligen Ereignisse. Andere mögen ganz andere Dinge erlebt und empfunden haben. Ich freue mich daher sehr über jeden Kommentar, der meine Schilderungen korrigiert oder ergänzt!

Wie konnte es damals überhaupt zu den ausgedehnten Überschwemmungen kommen? Schuld war eine seltene 5b-Wetterlage, wie Meteorologen das bezeichnen: Tiefdruckgebiete ziehen normalerweise vom Atlantik her Richtung Osten über Europa hinweg. Manchmal schiebt sich jedoch eine Kaltfront so weit nach Süden vor, daß die Tiefdruckgebiete bis zum Mittelmeer abgedrängt werden und über dem warmen Wasser sehr viel Feuchtigkeit aufnehmen. Der weitere Weg nach Osten zwingt die Wolken, an den Alpen und den Mittelgebirgen (Süd-)Osteuropas aufzusteigen; dadurch kühlen sie ab, und extreme Niederschläge sind die Folge. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, daß sich Tiefdruckgebiete auf der Nordhalbkugel stets gegen den Uhrzeigersinn drehen. Im Sommer 2002 wurden so wie bei einem auf der Seite liegenden Mühlrad gewaltige Mengen Wasser von der Adria nach Tschechien und Sachsen ‚geschaufelt‘.

Natürlich habe ich das alles in der Wikipedia nachgelesen; damals war ich mir nicht im Mindesten bewußt, welches Drama da seinen Lauf nahm. Es war mitten in den Semesterferien und ich war seit einigen Tagen im Ländle, um die Katze meiner Eltern zu hüten. Die befanden sich ausgerechnet im Erzgebirge, um im Rahmen eines Wanderurlaubs ein Stück des wilden Ostens kennenzulernen. Vor zehn Jahren klingelte nun mitten in der Nacht – es wird gegen 7 Uhr gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr – das Telefon…

13. August 2002

„Es ist alles in Ordnung!“ – Aha. Ich freue mich über diese Mitteilung meiner Mutter; es ist immer schön zu wissen, daß es den Eltern gut geht. Aber hätte sie mir das nicht gegen Mittag erzählen können?! Da erfahre ich erst, was in Sachsen seit gestern los ist. Ich habe noch tags zuvor mit einem Bekannten in Dresden telefoniert, der mir von sintflutartigen Regenfällen erzählt hat. „Wenn das so weiter geht,“ scherzte er beim Abschied, „haben wir bald eine Überschwemmung.“ Während wir entspannt plauderten, versuchten meine Eltern an diesem Montag abend, irgendwie zurück ins Hotel zu kommen. Vergeblich: im Erzgebirge traten die Wasserläufe bereits über die Ufer, Bäche wurden zu Flüssen. Der völlig übersättigte Boden kann die bis zu 312 Milimeter Wasser, die in den letzten 24 Stunden niedergegangen sind, nicht mehr aufnehmen. Mein Vater und meine Mutter müssen schließlich irgendwo auf halber Strecke übernachten.

Es hätte schlimmer kommen können: im kleinen Örtchen Weesenstein reißt die Müglitz mehrere Gebäude weg; eine Familie klammert sich bis zum Morgen an die letzte stehengebliebene Wand ihres Hauses, die wie eine Insel aus den Fluten ragt. Erst dann können die Eltern und ihre zwei Kinder mit einem Hubschrauber gerettet werden. Aufgrund von starkem Gefälle kommt es im Erzgebirge nicht selten zu so hohen Fließgeschwindigkeiten, daß ein Erwachsener selbst im knietiefen Wasser nicht mehr stehen kann. Das läßt den frühmorgendlichen Anruf dann doch irgendwie berechtigt erscheinen.

Ein Blick in die Nachrichten zeigt mir, daß auch Dresden vom Hochwasser betroffen ist. Die Weißeritz ist ein kleines Flüßchen, das irgendwo im Erzgebirge entspringt und nach ihrer Kanalisierung und Verlegung kurz hinter dem Landtag in die Elbe mündet. Ihre Tiefe beträgt normalerweise einen Meter, ihre Breite sechs Meter, in trockenen Sommern gleicht sie eher einem Rinnsal. Doch an diesem Morgen macht sie ihrem Namen alle Ehre – er ist westslawischen Ursprungs und bedeutet so viel wie ‚Wildwasser‘. Die Szenerie, nicht weit von meiner Wohnung entfernt:

Das Bild wurde von Conrad Nutschan geschossen und in der Wikipedia unter einer GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht

Dafür ist der Kanal nicht ansatzweise ausgelegt; die Weßeritz erobert sich ihr altes Bett zurück und überflutet dabei nicht nur den Hauptbahnhof und Teile der Altstadt, sondern auch mein damaliges Heimatviertel Friedrichstadt. In der Tagesschau sehe ich das THW mit einem Boot durch die Straßen fahren, die einen Teil meines täglichen Weges zur Uni bilden. JETZT habe ich wirklich alles gesehen… Am liebsten würde ich mich sofort ins Auto setzen und losfahren. Die Katze und ihre beiden Menschen, die das Hotel im Erzgebirge inzwischen erreicht haben, sind aber anderer Meinung. Erst am 15. werden sie die Heimfahrt antreten, bis dahin muß ich das Spektakel wohl oder übel in den Medien verfolgen.

Morgen nehmen wir dann den Faden wieder auf.

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