Populäre Irrtümer: Zum 85. Jahrestag eines Volksentscheides

Warum haben wir in Deutschland keine Volksentscheide auf Bundesebene? Genau, wegen der historischen Erfahrung. Schließlich ist allgemein bekannt, dass Volksentscheidende nicht unerheblich zur Destabilisierung der Weimarer Republik – und damit indirekt zur Machtübernahme Hitlers – beigetragen haben. Oder?

Die knappe Antwort lautet: Nein. Die etwas ausführlichere: Es gab in der gesamten Weimarer Zeit nur zwei Volksentscheide auf Reichsebene, deren Initiatoren in beiden Fällen scheiterten. Am 20. Juni 1926 ging es um die entschädigungslose Enteignung des deutschen Adels. Hier beteiligten sich nur knapp 40% statt der erforderlichen 50% aller Wahlberechtigten. Noch geringer war die Beteiligung beim zweiten Volksentscheid im Jahr 1929, dessen Gegenstand etwas komplexer ausfällt. Kurz gesagt ging es darum, den Versailler Vertrag und insbesondere die Reparationsforderungen der Weltkriegs-Sieger zu revidieren. Zusätzlich sollten die Mitglieder der amtierenden Reichsregierung als Landesverräter gebrandmarkt werden, weil sie eben diesen Reparationsforderungen notgedrungen nachkamen (wer mehr wissen will, kann es u.a. hier nachlesen). Diesmal machten sich nur rund 14% der Stimmberechtigten auf den Weg zur Wahlurne.

Gewissermaßen kam es also in beiden Fällen zum technischen K.O. Nun kann man durchaus argumentieren, dass vor allem der zweite Entscheid von 1929 zur Destabilisierung der Republik beigetragen hat: Das rechte Spektrum nutzte die Monate vor dem Entscheid für ein Propaganda-Trommelfeuer, das die Regierung diskreditierte und die politische Kultur Weimars zum Negativen veränderte. Allerdings darf man an dieser Stelle Symptome nicht mit Ursachen verwechseln. Die Weimarer Republik ging unter, weil starke gesellschaftliche Kräfte systematisch darauf hinarbeiteten, während vor allem ab Ende der 20er Jahre kaum noch jemand zu ihrer Verteidigung bereit war. Das Schicksal der Republik war auch ohne die beiden Volksentscheide besiegelt.

Fazit: Man kann gegen plebiszitäre Elemente in der Politik sein, aber dass die „historische Erfahrung“ schlecht gewesen sei, ist und bleibt ein populärer Irrtum.

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